Klicken Sie bitte auf obige Zeile um uns eine Mail zu senden wenn Sie über unsere aktuellen Aktivitäten informiert werden wollen oder wenn Sie Hilfe brauchen

Dienstag, 27. Oktober 2009

Von Verdauung und Veränderung

Verdauung


Vor drei Monaten wusste ich noch nicht mal, was ein Blog ist.


Dann beschloss ich nach Berlin zu wandern. Die Idee kam morgens um halb vier über mich, oder eher aus mir raus, als ich eine heftige Darminfluenza auszustehen hatte und mich wieder einmal fragte, wie das alles weitergehen soll. Warten bis Mutter stirbt, um wieder eine Lebensperspektive zu haben, um aus Hartz IV rauszukommen? Weiter ein System um Almosen anbetteln, das ausschließlich dazu erdacht wurde, Menschen so schnell wie möglich aufgrund ihrer Vermittelbarkeit wieder in Brot und Arbeit zu bringen, mit allen zur Verfügung stehenden Druckmitteln, die dafür ersonnen wurden?


Ich bin nicht vermittelbar, weil ich meine Mutter pflege. Seit fast 11 Jahren. Weil ich es gerne tue. Aber auch weil alle anderen Möglichkeiten, Mutter in unseren eigenen vier Wänden zu behalten während ich arbeitete, unbezahlbar wurden, da Mutters Erspartes nach 7 Jahren Pflegebedürftigkeit aufgebraucht war.


Bis dahin hatten wir uns nicht beschwert. Ich hatte mein Friseurgeschäft und habe Mutters Pflege organisiert oder selbst erledigt. Nur: War ich im Geschäft, dann brauchte ich jemanden für Mutter, sorgte ich mich um Mutter, dann brauchte ich jemanden im Geschäft. Hätte ich damals schon gewusst, dass Mutter noch so lange leben würde, dann hätte ich meine Arbeit schon zu Beginn von Mutters Pflegebedürftigkeit aufgegeben, denn im Grunde war das ein Nullsummenspiel, bei dem ich es keinem recht machen konnte, weder meinen Kunden, noch meiner Mutter, geschweige denn mir selbst. Nun ja, Kranksein kostet Geld und dass die Pflegeversicherung keine Vollkaskoversicherung ist, hat man uns ja oft genug gesagt in den letzten Jahren. Doch dass Pflegekasse und Sozialamt sehr wohl in Vollkaskohaftung treten würden, wenn Mutter ins Heim gebracht würde und wir hingegen mit ca. 600 Euro Pflegegeld auskommen sollen (plus Option Hartz IV für die Pflegeperson, wenn deren Erspartes bis auf die Schutzbeträge auch weg ist), um die vom Gesetzgeber vorgeschriebene Rund-Um-Die-Uhr-Versorgung bei Pflegestufe 3 sicherzustellen (Bundespflegegesetz §15, Abs.3), das musste ich selbst herausfinden. So sieht also die Formel "ambulant vor stationär" in Wirklichkeit aus?


Noch mal: Ich gebe Mutter ins Heim und der Staat zahlt so gut wie alles, in Mutters Fall ca. 3000.- Euro. Ein Teil von Mutters kleiner Rente würde abgezogen. Zwar versucht das Sozialamt, den entstandenen Fehlbetrag, der durch den Heimaufenthalt entsteht, wieder bei den Kindern zu holen. Die Freibeträge, die hier angesetzt werden, führen allerdings nicht zur Verarmung der nächsten Generation. Das will man auch nicht. Auf die Einkünfte würde auch nicht zugegriffen. Ein Kind mit Durchschnittseinkommen (nach meinen Quellen momentan 2407.- Euro brutto) würde nicht belangt.


Wer versteht das? Zumal ein Heimaufenthalt für die Allgemeinheit ja bedeutend teurer kommt als ein angemessen unterstützter Aufenthalt zu Hause. Ich brauche keine 3000.- Euro um Mutter zu pflegen, die Hälfte würde reichen. Doch mit 600.- Euro monatlich ist der finanzielle Ruin nur eine Frage der Zeit.


Mit diesem Wissen und unter diesen Bedingungen pflegte ich Mutter also in den letzten 4 1/2 Jahren. Mutters Rente und das Pflegegeld reichten zum Leben nicht aus, irgendwann war auch mein Erspartes weg. Immerhin gab es dann Hartz IV, allerdings nur zu folgenden Bedingungen:


  • Ich sollte dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.

    Es war ein langer Weg, der mich bis zum Sozialdezernenten unseres Landkreises führte, um darzulegen, dass Bewerbungsseminare und Eingliederungsmaß-nahmen in meiner Situation keinen Sinn machen. Außerdem kennt das SGB II sehr wohl "Ausnahmefälle, in denen wichtige Gründe zur Ablehnung einer Erwerbstätigkeit anerkannt werden. Für das Aufgeben oder Ablehnen einer zumutbaren Arbeit liegt ein wichtiger Grund dann vor, wenn die Pflege eines Angehörigen nicht mit dem Ausüben einer Arbeit vereinbar ist und die Pflege nicht auf andere Weise sichergestellt werden kann."
    Das hatte wiederum zur Folge, dass ich mich rechtfertigen musste, warum ich meine Mutter selbst pflege. Es sollte nicht das letzte Mal sein. Komisch, solange noch Geld da war, hat mich das keiner gefragt.

    Mittlerweile weiß ich, dass es vielen Menschen in meiner Situation genauso geht. Bei vielen AFöGs hat sich noch nicht rumgesprochen, dass wer einen Schwerstpflegebedürftigen zu Hause versorgt, dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung steht. Ich bin wenig optimistisch, dass sich das ändern wird.

    Nur ein vermittelter Hartz IV- Empfänger ist ein guter Hartz IV-Empfänger.

  • Sämtliche zusätzlichen Einkünfte werden angerechnet.

    Die Vermietung der leerstehenden Räume des Hauses in dem ich mit Mutter in unserer behindertengerechten Einliegerwohnung lebe, aus deren Erlös wenigstens die Zinsen bei der Bank beglichen werden könnten, scheitert, weil mir die Mieteinnahmen wiederum von Hartz IV abgezogen würden.

    Ich habe keine Chance, wirtschaftlich wieder auf einen grünen Zweig zu kommen, so lange ich meine Mutter versorge. Schlimm genug, wenn man so etwas auf absehbare Zeit wegstecken muss, also bis zur Wiedereingliederung ins Berufsleben. Kann man aber nicht vermittelt werden, dann wird daraus eine ewige Armutsfalle. Ich werde vor die Entscheidung gestellt: Mutter oder Geld. Ich finde das grausam und unmenschlich.

  • Die Gründung eines gemeinsamen Haushalts mit einer dritten Person hat zur Folge, dass sich der Staat aus seiner Pflicht als Leistungserbringer entbunden sieht.

    Das bedeutet, dass ich keine Perspektive habe, mit anderen Menschen zusammenzuziehen. Dann müssten der oder die für Mutter und mich sorgen.


Von all den anderen Nicklichkeiten, die mit Hartz IV verbunden sind (Wohnungsgröße, Heizungsabrechnungen, wiederholtes Offenbaren der Lebensführung etc.), möchte ich hier erst gar nicht berichten. Hartz IV scheint mir eine mangelhaft ausgearbeitete Gesetzesvorlage zu sein, die momentan von deutschen Sozialgerichten verabschiedet wird. Da entsteht viel Frust, nicht nur bei den Empfängern, sondern auch bei den Behörden.


Vielmehr liegt mir daran aufzuzeigen, weshalb mir am 1. August 2009, aus reiner Verzweiflung, morgens um 3.32 Uhr, auf dem Lokus die Idee kam, nach Berlin zu marschieren, in 40 Tagen, mit meinem Hund Till und ohne Geld. Nach Berlin, denn dort werden meine Lebensbedingungen gemacht, nicht in Stuttgart und schon gar nicht im Landratsamt. Die versuchen auch nur, mit jenen Gesetzen halbwegs klarzukommen, die sie am liebsten abschaffen würden.


Aufbruch, Veränderung, Perspektive, Auseinandersetzung, endlich eine Antwort erhalten auf die Frage: Was habe ich eigentlich falsch gemacht, dass ich nach unten durchgereicht wurde? Das war mein Antrieb.


Ein Blick auf den Kalender sagte mir, dass es keine Zeit zu verlieren gab. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wo ich unterwegs schlafen würde und die meiste Zeit des Sommers war schon vorbei. Und dann war da ja noch die Wahl. Wäre es nicht günstig, den Politikern - im Idealfall - vor der Wahl Stellungnahmen und Konzepte zur Pflegepolitik abzuringen, an denen sie sich hinterher würden messen lassen müssen? Zu diesem Zeitpunkt war Pflegepolitik komplett von der politischen Agenda verschwunden, Pflegebedürftige spielten im Wahlkampf keine Rolle. Und ich erhoffte mir ein offeneres Ohr in den Wochen bevor das Kreuz gemacht wird. Um es vorweg zu nehmen: Der Zeitpunkt war nach meiner Einschätzung ideal. Zwar habe ich manchen Politiker nicht getroffen, weil er sich im Wahlkampf befand und sich entschuldigen ließ. Doch allein schon der Bericht im Guller- dem großen Sonntagsanzeiger hier in unserer Gegend, mit sechsstelliger Auflage- vom 6. September, "Wahl- Spezial, Warum bitte sollen wir Sie wählen? Was würden Sie Stefan Krastel raten?" war Bestätigung genug für den richtigen Zeitpunkt. Wir werden nachhaken.


Außerdem: Wann ist schon der richtige Zeitpunkt? Hätte ich genügend Zeit gehabt, über das was ich da vorhatte nachzudenken, dann wäre ich niemals losgelaufen. Schon gar nicht mit jener Energie und Entschlossenheit, die mich, neben dem traumhaften Wetter, diesem großartigen Land und der überwältigenden Anteilnahme und Hilfsbereitschaft der Menschen, die in diesem Land leben, nach Berlin getragen hat.


Ich musste das tun, jetzt und nur jetzt.


Die nächste Tage drehten sich vor allem um die schwierigste Frage: Was passiert mit Mutter während ich unterwegs bin? Gibt es eine Möglichkeit, dass sie zu Hause bleibt? Nein, es gab keine. Alles unbezahlbar, unorganisierbar, unlegalisierbar, dabei auch noch die Achillesferse bei der ganzen Aktion. Was wenn Mutter etwas zustößt, während ich unterwegs bin? Wer übernimmt die Verantwortung? Nein, wir mussten in diesen sauren Apfel beißen und Mutter ins Heim geben, in der Hoffnung, dass es Mutter gut überstehen würde.


Sie hat es gut überstanden. Nicht zuletzt wegen der vielen Besuche, die Mutter während ihres Aufenthaltes bekam. Doch weiß ich auch ganz genau, dass sie sehr froh ist, wieder daheim zu sein und ich hoffe, sie nie mehr für so lange Zeit ins Heim geben zu müssen. Das war eine der schwersten Entscheidungen meines Lebens. Allein der Gedanke, dass ich für eine bessere Zukunft für uns beide losmarschiert bin, hat mich getröstet.


Dann habe ich Chris davon erzählt. Der sagte er käme mal vorbei. Er hat dann ein paar CDs und DVDs mit alten Radio- und Fernsehberichten über Mutter und mich mitgenommen und drei Tage später hatte ich eine Webseite!


Die mir so viel geholfen hat. Doch nicht nur mit Chris und später dann mit Frank, der in Creglingen auftauchte und spontan seine Hilfe anbot, hatte ich Glück, unverschämtes Glück. "wir pflegen" sicherte seine Unterstützung zu und plötzlich waren noch Susanne und Joachim mit im Boot, die sich wochenlang bemühten, mir eine kostenfreie Unterkunft an den Zielorten zu organisieren. Und auch mit Rudi, Truni und Lars, mit Steffi, Christian und Jakob,Thomas, Anne und Peter, Rob, Claudia, Gisela, Worschi, Barbara, Barbara, Jan, Henning, Norbert, Gerhard, Rita, Hans- Ullrich, Josh, Birgit, Susanne, Mirko, Hanneli, Angelika, Cornelia, Joachim, Wolfgang, Franz-Josef, Peter, Heike und Lisa, Ulla, Anke, Beate, Christian, Mathilde, Fara, Rainer, Dieter, Christoph und Christiane und den vielen, vielen anderen, denen ich unterwegs begegnet bin, die mir ein Bett gaben, etwas zu essen, Heimstatt, Zeit für mich hatten und mich allesamt bestärkten, dass es richtig ist was ich mache.


Ich habe mir sämtliche nur denkbare Fragen in diesen 40 Tagen gestellt, nur eine kam mir nie in den Sinn: Abzubrechen. Dazu war meine Entschlossenheit zu groß und der Zuspruch, den ich erfahren habe.


Der Presse und der AFöG haben wir auch noch Bescheid gegeben und dann war ich mal weg.


Und jetzt bin ich wieder da.


Ich habe die letzten Tage damit verbracht, ein wenig Familie mit Mutter und meinem Sohn zu leben, habe "Oben" gleich zwei mal im Kino angeschaut, den Sommer verabschiedet und die Herbstmelancholie begrüßt, Freunde getroffen und mit ihnen darüber nachgedacht, wie man diese 40 Tage in leistbare Kontinuität überführen kann, wie diese Energien am besten zu nutzen sind, wie diese Seite, zu der ich ja gekommen bin wie die Jungfrau zum Kind, weitergeführt werden kann.

Was sind unsere weiteren Ziele und was kann diese Seite leisten, um diese Ziele zu verwirklichen?


Ich weiß immerhin schon mal, was hier nicht stehen soll: Einzelheiten, Intimitäten aus Mutters und meinem Leben. Der Hinweis auf diesen traurigschönen Film weiter "oben" bleibt eine Ausnahme, ich habe das nur deshalb geschrieben, weil dieser Film sehr viel mit dem Thema zu tun hat, das auf dieser Seite bearbeitet wird: Altwerden, Familie, Träume, Lebensziele.


Doch eigentlich finde ich es wenig spannend, an dieser Stelle über Mutters Leibgericht zu berichten oder über das Gerstenkorn an meinem rechten Auge. Das tut nichts zur Sache. Wir stehen ohnehin schon genug in der Öffentlichkeit, und das aus reiner Notwehr. Wir haben uns das nur bedingt rausgesucht. Wäre Mutter schon vor geraumer Zeit gestorben, dann wäre ich niemals nach Berlin gewandert, hätte brav meinem Mund gehalten und Ihr würdet das hier nicht lesen weil es diese Seite gar nicht gäbe. Ich werde nicht müde zu betonen, dass ich eigentlich Friseur bin und nur durch die Umstände dazu gezwungen wurde, mich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen.


Was soll also in Zukunft hier stehen?


Ich werde diese Seite nutzen, um so oft wie möglich über den Fortgang der Dinge zu berichten. Es liegen bereits einige Einladungen vor, mit etwas Glück demnächst zu einer bekannten Gesprächsrunde bei den Öffentlich-Rechtlichen (Ich werde genaueres mitteilen, wenn das tatsächlich in trockenen Tüchern ist), zu Pflegeveranstaltungen um über meine Erfahrungen zu berichten, um politische Gespräche mit Verantwortlichen und Entscheidungsträgern zu führen. Und um gleich die Frage zu beantworten, die in diesem Zusammenhang immer wieder auftaucht: Das Wahrnehmen dieser Termine geht nur, weil ich von unserer wunderbaren Maria unterstützt werde, die Mutter schon öfter im Rahmen der Verhinderungspflege versorgt hat und einen Klassejob macht.

Das macht sie für den Gotteslohn. Wege sind wo man durchkommt.


Es wäre schön, wenn diese Seite zur Plattform für Pflegende werden könnte, die Hilfe und Rat suchen. Auch in meiner Funktion als Ansprechpartner von "wir pflegen" für Baden-Württemberg möchte ich jede E-mail, die mir zugesendet wird, nach bestem Wissen beantworten. Gleichzeitig freue ich mich über sämtliche Einschätzungen, Anregungen und Beiträge meine eigene und die politische Situation unseres Landes betreffend. Wie kann Pflegepolitik der Zukunft aussehen?


Das Diskussionsforum und die Kommentarspalte bleiben weiterhin Euch vorbehalten. Ich freue mich auf Eure Reaktionen, aber bitte seht es mir nach, wenn ich nicht auf jeden Eintrag antworte. Ich denke, es war auch eine gute Entscheidung, mich nicht auf manche Polemik und Beleidigung einzulassen, die dort erschienen ist. Mancher will auch nicht verstehen.


Ihr könnt da diskutieren, dass sich die Balken biegen, jeder darf behaupten, dass die Welt eckig ist, doch werden wir auch weiterhin darauf verzichten, Mails die beleidigend und anonym sind zu veröffentlichen.


Wer sich direkt an mich wenden möchte um mir die Meinung zu geigen, kann das ja gerne mit Hilfe der E-mail-Adresse, die auf der Webseite steht tun. Doch auch hier behalte ich mir vor, auf unsachliche Mails nicht zu antworten.


Während meiner Reise habe ich rund tausend Fotos gemacht. Es wird mir eine Freude sein, möglichst regelmäßig eines dieser Bilder kommentiert auf diese Seite zu stellen. So darf ich noch einmal Augenblicke dieser unvergesslichen Reise durchleben, die wichtig oder auch nicht so wichtig waren, sondern einfach nur schön oder traurig oder lustig oder so.



Was sind meine Ziele?


Die Einschätzung meiner persönlichen Situation, als ich losmarschierte, war, dass ich in der Falle sitze zwischen Pflege-und Sozialgesetzen, zwischen SGB XI und SGB II. Das stimmt auch. Von der Pflegekasse gibt es zu wenig, Hartz VI hat mich arm gemacht. Deshalb war mein Ziel in Berlin das Bundeskanzleramt als Ressort übergreifende Institution.


Doch es ist alles viel einfacher, die Kuh wäre ganz einfach vom Eis zu bringen: Nämlich in dem das anteilige Pflegegeld bei Pflegestufe 3 an die Pflegesachleistungen angeglichen würde.


Das würde die Pflegekasse erstmal jährlich mit zusätzlich 800 Millionen Euro belasten (Stand 2007). Von diesem Betrag müssten allerdings die Leistungen abgezogen werden, die die Sozialkasse, also Hartz IV für Menschen erbringt, die sich in der gleichen Situation befinden wie Mutter und ich, also Hartz-VI-Empfänger sind. Leider gibt es darüber keine Statistik, wie viele Menschen aufgrund ihrer Pflegetätigkeit Hartz IV brauchen, doch ich vermute, dass das nicht wenige sind.


An dieser Stelle sei auch noch einmal auf die Aussage von Herr Hesse, dem Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes hingewiesen, der im Rahmen des Fernsehinterviews im RBB bemerkte, dass uns durch eine solche Regelung viele Heimaufenthalte erspart blieben, was wiederum der Staatskasse eine Menge Geld sparen würde.


Übrigens wäre das ziemlich exakt der Betrag, über den Mutter und ich jetzt verfügen. Allerdings hätte man uns dann Hartz IV erspart, weil dieser Betrag komplett aus der Pflegekasse gekommen wäre. Ich hätte nach meiner Pflegetätigkeit genau dort weiter machen können wo ich aufgehört habe, bevor Mutter schwer erkrankte. Ich hätte noch meine private Altersvorsorge, wenigstens einen Teil meines Ersparten, das behindertengerechte Auto. Alles wäre fast gut, mal ganz abgesehen von der Hartz-IV-Prozedur, die nicht nur Nerven aufreibend ist, sondern auch einen enormen und im Fall von Pflegenden Angehörigen sinnlosen Verwaltungsaufwand bedeutet, weil Pflegende Angehörige, die Schwerstpflegebedürftige versorgen, in Hartz IV einfach nichts verloren haben. Dazu kommen die enormen Verwaltungskosten, die hierbei anfallen. Wie viele Sachbearbeiter mussten sich bereits unzählige Stunden mit meinem Fall befassen und wie viele müssen das in Zukunft noch tun?


Bleibt natürlich die Frage nach der Bedürftigkeit: Soll jemand 1470.- Euro monatlich vom Staat bekommen, wenn er reich ist?

Nach meiner Einschätzung stellt sich diese Frage gar nicht. Ich kann nur mutmaßen, weil es wie gesagt keine genauen Zahlen gibt, doch es scheint offensichtlich, dass alle Schwerstpflegebedürftigen (Pflegestufe 3), die zu Hause rund um die Uhr versorgt werden und keinen Pflegedienst in Anspruch nehmen- das sind 85443 Menschen (Pflegestatistik 2007)- dies nur aus zwei Gründen tun: Weil sie es sich nicht mehr leisten können einen Pflegedienst in die tägliche Pflege mit einzubeziehen oder aus Mangel an Angebot und Geld auf eines der illegalen, halblegalen oder legalen und damit sehr teuren Angebote halbseidener osteuropäischer Anbieter zurückgreifen.


Osteuropäische Pflegekräfte, auch ein umfassendes Thema, das auf dieser Seite bestimmt noch behandelt werden wird. Eine Bemerkung sei jedoch jetzt schon erlaubt: Warum überlassen wir diesen Milliarden schweren Markt eigentlich undurchsichtigen Fremdanbietern? Auch hier müssen und können Modelle mit klaren Vorgaben geschaffen werden, um zig tausende von Haushalten zu entkriminalisieren. Wer blickt denn da noch durch? Andere Länder sind da nach meinem Wissen schon viel weiter. Das sehr sachliche und gerade deshalb berührende Buch "Wohin mit Vater?" eines anonymen Autors sei an dieser Stelle wärmstens empfohlen.


Also: Angleichung des Pflegegeldes an die Pflegesachleistungen bei Pflegestufe 3 bedeutet, dass mehr Unterstützung genau dort gewährt würde, wo sie am dringendsten benötigt wird.

Höre ich da schon wieder jemanden von "Sozialschnorrern" schwadronieren?


Denen sei gesagt, dass wer rund um die Uhr pflegt, per se gar kein Sozialschnorrer sein kann, weil er für dieses Geld eine Leistung erbringt, die ihn manchmal bis an den Rand der Belastbarkeit strapaziert und dabei überdies der Solidargemein-schaft eine Menge Geld spart. Pflegegeldbezieher können also schon laut Definition von Schnorrer keine Schnorrer sein.

Dabei will ich es auch belassen, weil dieses Thema aus besagten Gründen nicht hier her gehört.


Wer dennoch Bedenken hat, dass mit all dem Geld übler Missbrauch getrieben werden könnte, Schindluder, dem sei gesagt, dass Kontrollen natürlich notwendig sind. Nein, keine Kontrollen, sondern ein partnerschaftliches Nach-Wegen-Suchen in Zusammenarbeit mit Pflegestützpunkten, Pflegeteams, die diesen Namen auch verdient haben, die Sozialkompetenz und Hilfe dorthin bringen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, nämlich in die Familien. Ohne Familien kein Staat.


Die Auswirkung solch eines Gesetzes auf das Sozialklima in unserem Land wäre enorm. Es geht die kalte Angst um, im Fall eines Schicksalsschlages aus finanziellen Gründen ins Heim zu müssen. Das kann auch ein Unfall sein. Davon konnte ich mich in unzähligen Gesprächen auf meiner Wanderung gründlich überzeugen. Wie soll ich mit 600.- Euro zu Hause versorgt werden, wenn wir, meine Familie und ich, nicht auf Rosen gebettet sind? Endlich würden die richtigen und notwendigen Anreize geschaffen, um "ambulant vor stationär" in die Familien und den Alltag zu integrieren. Jene die zu Hause pflegen, sollten nicht arm gemacht werden, in dem sie ihr eigenes Vermögen aufwenden müssen, im Gegensatz zu denen, die es nicht tun.


Natürlich kann, wer es sich leisten kann, eine private Pflegeversicherung abschließen. Doch viele haben dieses Geld einfach nicht, jetzt nicht und auch nicht später. Müssen die dann ins Heim? Es geht doch um die Frage, wie wir das zur Verfügung stehende Geld, unser Geld einsetzen. Dafür, dass noch mehr und noch größere Heime gebaut werden oder dafür, dass wir zu Hause alt werden dürfen? Auf was soll das hinauslaufen? Käfighaltung für Alzheimerpatienten?

Meint Ihr es wäre an der Zeit, einen sofortigen Baustopp für Pflegeheime zu fordern?


Mitten in diese Gedanken platzte die Nachricht, dass CDU/CSU und FDP das Schonvermögen für Hartz-IV-Empfäger pro Lebensjahr verdreifachen, also von derzeit 250.- Euro auf 750.- Euro. Zuerst dachte ich, ich hör nicht recht. Das saß. Dann begann ich langsam darüber nachzudenken, was das für mich bedeutet, für mein Leben.


Nämlich dass man mir, hätten diese Beträge bereits existiert als ich vor fast 5 Jahren meinen ersten Hartz-IV-Antrag gestellt hatte, weder meine Lebensversicherung noch mein Auto genommen hätte. Das Schicksal kann zynisch sein.


Gehe ich also als tragische Figur, als Treppenwitz in die Geschichte der deutschen Sozial- und Pflegepolitik ein, als einer der zur falschen Zeit um Hilfe bat, nämlich genau dann, als die Sozialgesetze am grausamsten waren?


Das könnte man meinen und diese Erhöhung der Schonbeträge leistet tatsächlich all jenen Vorschub die nun sagen, dass ein Teil des Elends meines Falles für die Zukunft erstmal korrigiert wurde. Stimmt. Mein Bruder hatte sogar die, zugegeben, vermessene These, dass man sich das in Berlin nur ausgedacht hätte, um sich weitere peinliche Begegnungen mit mir zu ersparen. Na, mir soll`s recht sein. 1:0 für uns, und das noch vor dem Anpfiff! Klasse. Das ist doch mal eine gute Nachricht.

Deshalb schlug meine anfängliche Schockstarre auch sehr bald in echten Jubel um, weil damit der immensen Angst vor Verarmung bei Hartz-IV-Empfängern wenigstens ein wenig entgegengewirkt wird. Dieses Geld wird tatsächlich da hin fließen, wo es am nötigsten gebraucht wird. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die Schutzbeträge für jene, die im Heim pflegen lassen, immer noch um ein Vielfaches höher sind als die eines Hartz-IV-Empfängers, von den anderen Irrungen und Konsequenzen abgesehen, die Hartz IV für Pflegende Angehörige mit sich bringt, wie oben beschrieben. Nicht zuletzt deshalb bleibt als erstes und wie ich finde vorerst wichtigstes Ziel: Kein Hartz IV für Pflegende Angehörige von Schwerstpflegebedürftigen. Um das zu verwirklichen kann es nur eine Forderung geben: Die Angleichung des Pflegegeldes an die Pflegesachleistungen bei Pflegestufe 3.

Details sind Verhandlungssache.



Wie gesagt, die Pflegepolitik ist ein weites Feld mit viel Luft nach oben. Ich habe auf meiner Wanderung aber erkannt, dass sich der verzettelt, der zu viel auf einmal will. Deshalb soll sich mein Bemühen vorrangig auf die Verwirklichung dieses Zieles konzentrieren. Dann wäre viel erreicht und ein Aufatmen ginge durch unser Land. Doch es gibt noch viele Baustellen.

Was wird zum Beispiel aus den Pflegestützpunkten, die ja eigentlich eine gute Idee waren, bevor sie in einem politischen Trauerspiel zu Grabe getragen wurden noch ehe sie geboren waren?

Wie verhält es sich mit dem persönlichen Budget, bei dem nach meinem Wissen Familienmitglieder ersten Grades aus dem Leistungsanspruch ausgeklammert werden? Jeder bekommt Geld für die Pflege, nur Familienmitglieder nicht?

Wie doof ist das denn? Müssen Familienmitglieder, die dazu wahrscheinlich noch die besten Pfleger wären, nicht essen und trinken? Das kommt mir vor wie staatlich verordnete Diskriminierung von Familienmitgliedern. Kann mir das jemand erklären oder bin ich da falsch informiert?


Die hier erwähnten Punkte sind nur einige wenige in diesem unüberschaubaren, interessengesteuerten, das Wohl der eigentlich Betroffenen oft nicht beachtenden, überregulierten Kuddelmuddel namens Pflegepolitik. Ich finde, unser Verein "wir pflegen" hat ein hervorragendes Positionspapier entworfen, bestehend aus elf Leitlinien und 33 Forderungen, aus denen ersichtlich ist, was alles zu tun ist. Viele Behindertenverbände kämpfen seit Jahrzehnten aufopferungsvoll um bessere Bedingungen für Menschen mit Behinderung und deren Angehörige. Wir sollten alle gemeinsam versuchen, unsere Ziele mit einer Stimme zu formulieren und umzusetzen. Doch eins nach dem anderen. In Berlin habe ich erfahren, dass wer zu viel auf einmal will, am Ende mit leeren Händen dazustehen droht. Deshalb nehme ich mir als erstes Ziel das Erreichen des oben Formulierten vor. Das ist machbar und bezahlbar. Das sind, so hat man mir im Sozialministerium in Berlin versichert, die beiden Voraussetzungen für Gesetzesänderungen, rentabel und praktikabel muss es sein. Der wissenschaftliche Beweis, dass sich langfristig sogar eine Menge Geld sparen ließe muss dringend erbracht werden.


Das ist was ich für den Moment leisten kann. Das steht jetzt an. Keine "Armut durch Pflege". Das ist der Bereich, in dem ich mich auskenne. Dann sehen wir weiter, Schritt für Schritt.



Veränderung


Am häufigsten fragen mich jetzt die Leute, ob die Wanderung denn was gebracht hätte, ob sich jetzt etwas verändert hat. Ich glaube die Frage ist nicht, ob Veränderung stattfindet, denn die Welt verändert sich in jedem Augenblick. Die Frage ist, ob ich mich an dieser Veränderung beteiligen möchte, mit dem Willen zur Mitgestaltung, innen wie außen. Mischt Euch ein.


Das könnt Ihr zum Beispiel, indem Ihr die verschiedenen Vereine wie "wir pflegen" unterstützt, indem Ihr mit anderen Leuten über dieses Thema sprecht, indem Ihr diese Seite anklickt. Die Gründung einer "Regionalgruppe Ortenau" des Vereins "wir pflegen" befindet sich in Planung. Wer also hier aus meiner Gegend kommt und sich tatsächlich einbringen will, wird dazu demnächst reichlich Gelegenheit bekommen. Auch nicht unmittelbar Betroffene sind herzlich willkommen. Näheres wird zu gegebenem Zeitpunkt auch auf dieser Seite bekanntgegeben.


Äußerlich hat sich auf den ersten Blick tatsächlich wenig verändert, außer dass ich ein paar Kilo verloren habe und meine Haare etwas länger wurden, genau wie Tills Pelz. Ich werde wieder meinen Hartz IV-Antrag abliefern und genau dort weiter machen, wo ich aufgehört habe, denn für Mutter und mich gibt es hierzu offensichtlich bislang keine Alternative.


Der Alltag hat mich also wieder - oder doch nicht?


Denn etwas hat sich jetzt schon sehr wohl verändert: Ich habe wieder Hoffnung.


Alle außer ein paar wenigen, die alle mehr oder weniger verantwortlich für die Pflegepolitik sind oder waren, haben erkannt, dass sich dringend etwas ändern muss, dass sich etwas ändern kann, dass Pflegepolitik ein Feld mit unglaublich vielen Möglichkeiten für unser Land ist, sofern die Bereitschaft da ist, Veränderung zuzulassen, vorhandene Gelder anders, effizienter zu verteilen.


Wollen wir die Pflege zu Hause haben oder sollen immer mehr Betonbunker gebaut werden, die dringend gefüllt werden müssen, damit sie überhaupt existieren können? Wollen wir heute die Anstalten von morgen bauen?


Pflege gehört als erstes ins Private. Wir müssen niederschwellige Angebote zulassen, sie in die Hände der Familien legen. Die wissen am besten, was sie und ihre Pflegebedürftigen brauchen und nicht irgendwelche Fremdanbieter, die enorme Kosten damit generieren, dass sie uns Formate und Angebote anbieten, von denen wir viele nicht wollen oder brauchen. Wir müssen Strukturen schaffen, die es ermöglichen, so einfach wie möglich zu Hause zu pflegen oder pflegen zu lassen, zu Hause betreuen oder betreuen zu lassen, weil wir zu Hause alt werden wollen.


Ich glaube an Veränderung zum Guten, weil ich Optimist bin und die Menschen nicht immer dümmer, sondern immer gescheiter werden.


Und: Soll nicht, wer im Stande war die Spitze des Elends bei Hartz IV zu kappen, Vergleichbares auch in der Pflege hinbekommen? Schon gar wenn es mittelfristig nichts kostet?


Auch hier weht Veränderung. Ganz ehrlich: Ich bin froh darüber, nicht mit dem Personal der letzten Jahre diese Fragen erörtern zu müssen. Die SPD hat im Gesundheitsministerium, Bereich Pflege, viele Fragen und Baustellen hinterlassen. So konnte das nicht weitergehen. Da muss ein neuer Anfang her. Wir können uns einen weiteren Ausbau dieses Mangelsystems auf Kosten der Familien nicht länger leisten, aus menschlichen und wirtschaftlichen Gründen. Zum Glück. Vielleicht zieht so endlich Vernunft ein um das zu meistern, was da wie eine Lawine auf uns zurollt.


Ihr habt mir während meiner Reise unglaubliche 1560.- Euro gespendet. Mit diesem Geld hab ich unser kräftig überzogenes Girokonto wieder ausgeglichen, da steht jetzt für ein paar Tage eine schwarze Null. Sämtliche Fixkosten für Haus, Kind, Energie, Kommunikation, Gesundheit liefen ja weiter, als ich unterwegs war und da ich seit September keine Hartz-IV-Leistungen bezogen habe, kam da Einiges zusammen.


Mehr als ein herzliches "Gott vergelts", auch im Namen von Mutter, kann ich hier leider nicht leisten. Doch ich werde versuchen, in anderer Währung etwas davon zurückzugeben, in dem ich weiter mache. Das was Mutter und mir widerfahren ist, sollte in baldiger Zukunft niemandem mehr in Deutschland passieren müssen.


Das Spendenkonto habe ich gestern aufgelöst. Auch weil mein Marsch nach Berlin spätestens jetzt vorbei ist. Weitere Gründe, die auch an dieser Stelle bereits diskutiert wurden, liegen auf der Hand. Noch mal ein herzliches Danke an alle, die uns bis hier her getragen haben, mit Geld, Zeit, Glaube, Geduld und Anteilnahme an unserer Geschichte.


Diese 40 Tage haben mich kräftig durchgeschüttelt, und manch anderen auch. Das war genau was ich wollte. Ich glaube, es ist mir gelungen, mich von niemandem vereinnahmen zu lassen, auch nicht von der Bild-Zeitung.


Jetzt gilt es, das Erreichte weiter zu entwickeln. Dieser Blogeintrag bedeutet für mich einen wichtigen Schritt. Bitte bedenkt, dass es für das, was hier geschieht, keine Vorlage, keine Blaupause gibt. Ich hoffe, dass ich sowohl technisch als auch inhaltlich so schnell wie möglich lerne, diese Seite mit Leben und Sinn zu füllen. Und es gibt ja auch noch ein Leben außerhalb des Netzes.


Die nächsten Einträge werden also garantiert kürzer sein, doch zuerst musste ich Grundsätzliches für mich und für Euch klären, das braucht halt Raum. Wer will bleibt dieser Seite bitte weiterhin troy. Doch mindestens so wichtig wie das, was hier steht, ist mir die persönliche Kommunikation mit denen, die ich unterwegs getroffen habe und mit denen, die ich noch treffen werde. Deswegen gehe ich jetzt dran, die ca. 300(!) Mails und Briefe, die ich bekommen habe- und es werden täglich mehr - zu beantworten.


Fehlt was, hab ich was vergessen?

Dann lasst es mich bitte wissen. Ansonsten gilt:


Ihr hört von mir.


P.S.: Wer nicht an den Sieg glaubt, braucht erst gar nicht auf den Platz.

(Sepp Herberger)